Machen wir einen kleinen Test: Wie viele Spieler aus den WM-Teams von Harold Kreis und Harijs Witolinsch wären von Patrick Fischer aufgeboten worden, wenn sie Schweizer wären? Wie viele wären also besser, talentierter als die insgesamt 29 Mann um Captain Nino Niederreiter, die in Riga die Nummer des sterbenden Schwanes aufgeführt haben? Um nicht den Verdacht der Polemik zu wecken, seien nur Zahlen genannt. Ohne Namen zu nennen.
Noch nie in diesem Jahrhundert haben so wenig Stars einem WM-Turnier die Aufwartung gemacht. Die Stunde der Aussenseiter. Lettland und Deutschland haben diese einmalige Chance mit Silber und Bronze genutzt. Wir nicht. Mit dem besten WM-Team unserer Geschichte. Ja, internationale Beobachter sind sich einig: Niemand brachte bei der WM 2023 so viel pures Talent aufs Eis wie die Schweizer. Auch die Kanadier waren nicht talentierter als wir.
Aber Kanada ist immerhin mit 513'674 Spielenden und nun 28 WM-Titeln die Hockey-Nation Nummer 1. Deutschland (21'090) und Lettland (7898) haben hingegen weniger lizenzierte Spielende als die Schweiz (29'360). Die nationalen Ligen sind, was Budgets, Saläre, grosse Namen und Zuschauerzahlen betrifft, im Vergleich zu unserer National League Operettenligen.
Und doch waren die Deutschen und die Letten besser. Warum? Weil die Schweizer in Riga die Demut verloren haben. Das ist, wie sich jetzt im Rückblick zeigt, der zentrale Punkt: Sie wollten modern sein. Sie haben nach den vier Siegen (7:0 gegen Slowenien, 3:0 gegen Norwegen, 5:0 gegen Kasachstan und 3:2 gegen den späteren Weltmeister Kanada) ohne Not die Grundaufstellung und sogar die Powerplayformationen verändert. Gegen Tschechien hat es noch funktioniert (4:2) und es schien, als habe der Nationaltrainer mehr Optionen und unsere Mannschaft sei für die Gegner unberechenbarer.
Aber dann sind fürs letzte Gruppenspiel gegen Lettland auch noch vier wichtige Spieler und die zwei besten Goalies geschont worden. Die Konzentration und die Dynamik gingen verloren: 3:4 n.V gegen Lettland, 1:3 gegen Deutschland.
Die Deutschen und die Letten sind gar nie dazu gekommen, die Demut zu verlieren und arrogant zu werden. Die Deutschen mussten nach drei Startniederlagen die restlichen vier Gruppenspiele gewinnen, um in den Viertelfinal zu kommen. Bundestrainer Harold Kreis brachte es auf den Punkt:
Für die Letten hatte die WM mit einer bitteren 0:6-Pleite gegen Kanada begonnen und sie brauchten im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz mindestens einen Punkt für den Viertelfinal.
Kommt dazu: Eishockey hat in Deutschland bei weitem nicht den gleich hohen Stellenwert wie in der Schweiz. Schon von Haus aus sind die Deutschen bei einer WM demütiger.
Kontinuität ist im Sport wünschenswert. Sofern diese Kontinuität nicht zu Selbstzufriedenheit führt und sofern sie eine ständige kritische Auseinandersetzung erlaubt. Patrick Fischer ist seit 2015 im Amt. Das ist erfreulich und richtig. Aber eine kritische Auseinandersetzung gibt es bei seinem Arbeitgeber (bei der Verbandsführung) nicht.
Der Deutsche Eishockey-Bund ist seit 2015 nie zur Ruhe gekommen. Marco Sturm führte die Mannschaft 2018 nach einem Sieg über die Schweiz im Achtelfinal am Ende zu Olympischem Silber, sein Nachfolger Toni Söderholm 2021 bei der WM nach einem Sieg über die Schweiz auf den 4. Platz und nun hat Harold Kreis nach einem Sieg gegen die Schweiz im Viertelfinal schliesslich Silber geholt. Er konnte die Mannschaft erst im Laufe der Saison übernehmen. Toni Söderholm war aus einem laufenden Vertrag davongelaufen, um in Bern zu versagen. Drei Bundestrainer, drei Siege gegen die Schweiz, drei Exploits.
Bei so viel Unruhe gibt es keine Selbstüberschätzung. Da bleibt nur Demut. So gesehen ist es logisch, dass Patrick Fischer seinen grössten Triumph (WM-Silber) 2018 gefeiert hat. Nach einem völlig missratenen Olympischen Turnier – mit Medaillen-Anspruch angereist, nach einer Achtelfinalniederlage gegen Deutschland schon wieder abgereist – stand sein Amt heftig zur Debatte.
Das WM-Turnier begann ein paar Wochen später mit einem blamablen Punktverlust gegen Österreich (3:2 n.V). Um in den Viertelfinal zu kommen, musste das letzte Gruppenspiel gegen Frankreich gewonnen werden. Es war bis heute die letzte WM, bei der wir bis zuletzt um die Viertelfinal-Qualifikation gezittert haben. Die bisher letzte WM, bei der wir demütig waren. Die letzte WM, bei der wir unser Potenzial ausgeschöpft haben. Die letzte WM, bei der wir eine Medaille geholt haben.
Nun, da wir das Endresultat der WM 2023 kennen, wird klar ersichtlich: Die Deutschen und die Letten haben die Medaille geholt, die eigentlich für uns reserviert war. Silber für Deutschland, Bronze für Lettland:
Die Schweizer haben eine WM-Medaille, ja eine Jahrhundertchance auf den WM-Titel verschenkt. Die Schmach von Riga ist umso bitterer, weil sie zu einem viel zu grossen Teil hausgemacht ist. Es gibt nicht eine einzige Ausrede.